Adaptive Architektur: das Bauprojekt als kritischer und transformativer Akt

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27.10.2025
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Andrea Nardi
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Co-Leitung von Archi
Adaptive Architektur: das Bauprojekt als kritischer und transformativer Akt
Beschreibung

Andrea Nardi ist Co-Redaktionsleiter von Archi und Diplomassistent an der Accademia di architettura in Mendrisio. Hier berichtet er vom SIA Masterpreis Architektur 2025 und über die Gewinnerprojekte, denen es gelungen ist, komplexe kulturelle, gesellschaftliche und ökologische Fragen in lebendige Architektur zu verwandeln.

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Adaptive Projekte – so liessen sich die Gewinnerprojekte des SIA Masterpreises Architektur 2025 definieren. Auch in der vierten Durchführung wird einmal mehr deutlich, dass Architektur Spiegel, Ausdruck und Lesart ihrer Zeit ist; sie geht mit ihr in die Konfrontation, verarbeitet und gestaltet sie neu. Die ausgewählten Projekte – darunter drei Preise und fünf Anerkennungen – zeigen, dass die akademische Forschung nicht nur an komplexen Fragestellungen arbeitet, sondern sich diese auch zunutze macht: und zwar indem bauliche und landschaftliche Gegebenheiten von konzeptionellen Einschränkungen in konstruktive Elemente verwandelt werden.

Diese Auslegung spiegelt die drängenden kulturellen, gesellschaftlichen und ökologischen Fragen der heutigen Zeit wider und definiert das Selbstverständnis Architekturschaffender neu: Ihre Rolle verlagert sich von der reinen Urheberschaft eines Projekts zu einer vielschichtigen, facettenreichen Tätigkeit. Recherchen, Feldstudien und Erhebungen (technischer und statistischer Daten, aber auch zu emotionalen und gesellschaftlichen Faktoren) sind dabei nicht nur praktische Voraussetzungen, sondern fester Bestandteil des Projekts. Im architektonischen Schaffensprozess laufen somit Analyse, Erfahrung und Handeln in einem ausgewogenen Verhältnis zusammen: Nur so kann er die komplexen Fragen unserer Zeit in einem gestalterischen Prozess aufbrechen und beantworten.

Bilder und Zeichnungen dienen nicht nur der Illustration, sondern auch dem Verständnis: Konstruktionsphasen, Anwendungsfälle und Konzeptskizzen geben den Werdensprozess in seiner Gesamtheit wieder und lassen Betrachtende mitten in den architektonischen Gestaltungsvorgang eintauchen. Dieser ganzheitliche Ansatz wird der Komplexität der Aufgabe erst gerecht. Zudem erfolgt dabei eine klare kulturelle und ideologische Positionierung im akademischen Umfeld der Schweiz.

Die Projektpräsentationen sind mit Informationen und Daten gespickt, auf denen die Projektarbeit aufbaut. Nach welchen Kriterien diese Daten ausgewählt wurden, galt es aufzuschlüsseln, um in der Endauswahl der Jury zu landen. Rolf Mühlethaler, Pia Durisch, Marco Zünd, Jan Kinsbergen, Anne Marie Wagner, Vincent Rapin, Jeanne Welliger, Manuel Burkhardt und Pauline Sauter (2024 ausgezeichnete Studentin) bewerteten die 31 nominierten Masterarbeiten. Die Entscheidungen dieser Jury spiegeln die intellektuelle Vitalität der neuen Generationen wider. Sie verdeutlichen, welch wichtige Impulse Dozierende geben, damit die angehenden Architektinnen und Architekten lernen, die Gegenwart kritisch zu reflektieren.

Zum ersten Mal habe ich die Ausstellung zur Mittagszeit besucht. Die Studierenden hatten zwischen den Tafeln Tische aufgestellt und sassen dort in Gespräche vertieft und entspannt. Dabei begutachteten und kommentierten sie die Arbeiten der Mitstreitenden. Die Atmosphäre war von Neugier und Interesse geprägt. Und so ergab es sich wie von selbst, dass man sich mit aktuellen Gestaltungskonzepten vertraut machte und daraufhin eigene neue Vorschläge und Ideen anbrachte.

Die Preisverleihung am 22. Oktober war nicht nur die offizielle Feier des Wettbewerbs, sondern warf auch eine Diskussion und neue Fragen auf: Die jungen Architektinnen und Architekten wurden aufgefordert, ihrer Neugier Taten folgen zu lassen. Sie sollten ins gestalterische Handeln kommen und so mutig und konkret ein kleines Stück Zukunft schreiben. Der Abend bot die Gelegenheit, die Gewinnerinnen und Gewinner zu Wort kommen zu lassen. Die Vielfalt der geschilderten Ansätze beeindruckte alle Anwesenden. Allen Projekten gemein ist, dass man sie als „Reparaturarbeiten“ bezeichnen könnte: Dieser Vorgang erfordert nicht nur ein Gespür für den Ort, sondern auch für das zu verwendende Werkzeug. In vielen Fällen kann auf hochtrabendere Lösungen verzichtet und das architektonische Vokabular auf das Wesentliche reduziert werden. Poetik und Wertigkeit der Konzepte sollen dabei jedoch stets ungemindert bleiben. Lassen Sie uns nun im Detail auf die prämierten Projekte – Preise sowie Anerkennungen – eingehen, indem wir uns an den Worten ihrer jeweiligen Urheberinnen und Urheber und an den Betrachtungen der Jury orientieren. Es sind kurze Texte, mit denen versucht werden soll, die zahlreichen Denkanstösse zu ordnen:

Markus Nyfeler – «Rohstoff-Lager» (ETHZ, Roger Boltshauser, BUK Mettler & Studer)

Im Basler Hafenquartier, zwischen Schienen und Silos, stellt sich Nyfeler eine Zukunft vor, die Bestehendes nicht auslöscht, sondern umgestaltet. Das Westquai-Areal wird zu einer städtischen Schwelle. Das alte Warenlager wird als offener, flexibler Raum neu interpretiert, der Wohn- und Bildungsstätten beherbergen kann. Als Ergebnis des Dialogs zwischen Substanz und Erinnerung lässt das Bauwerk auf Bestehendem Neues entstehen. Das Projekt besticht durch Kohärenz, Klarheit und die Nutzbarmachung des bereits Vorhandenen als Werkstatt für die Stadt der Zukunft.

Maria Giulia Folonari – «Subsoil. The invisible becomes generative» (USI, Frédéric Bonnet)

In einem kontaminierten Industriegebiet Portugals verwandelt Folonari im Sinne einer neuen Bauökologie vergifteten in fruchtbaren Boden. Die Sanierung wird zu einem gemeinschaftlichen Prozess: In langsamen, konkreten Massnahmen, gestützt durch leichte, temporäre Strukturen, beteiligt sich die Bevölkerung aktiv an der Regenerierung. Es ist eine poetische und politische Geste, die Architektur als Fürsorge versteht, um eine Landschaft von und für die Gemeinschaft entstehen zu lassen.

Samuel Giblin und Paula Kiener – «Zum Beispiel Tartar» (ETHZ, Elli Mosayebi, Tino Schlinzig)

In einem kleinen Bündner Dorf beschäftigen sich Giblin und Kiener mit der Landflucht und hauchen einer ungenutzten Scheune neues Leben ein, indem sie sie in ein Gemeinschaftshaus verwandeln. In der Recherche haben sie tief in den Ort und die Dorfgemeinschaft hineingehorcht. So wurde das Bauwerk mehr als nur ein Objekt – vielmehr dient es als gesellschaftliches Instrument, als ein Ort der Begegnung und des wiederentdeckten Gemeinschaftslebens. Das Konzept hat Vorbildcharakter und lässt sich in anderen Alpengegenden replizieren, in denen solche Projekte auch bedeuten, dass Beziehungen geknüpft und der Zusammenhalt wiederhergestellt werden.

Zoe Struzina – «Zur Nuss-Oele» (ETHZ, Momoyo Kaijima, BUK Mettler & Studer)

In Steinhausen nutzt Struzina eine verlassene Scheune zur Kollektivwerkstatt um. Die Herstellung von Walnussöl wird zum Vorwand, um das Wissen, die Geselligkeit und die Identität des Ortes zu reaktivieren. Gleichzeitig entstehen ein neuer Kindergarten und bezahlbarer Wohnraum. Durch diese kleine Initiative gelingt es, ein kleines Stück Region und Kultur sensibel und sorgfältig zu regenerieren.

Marie Bourdon und Juliette Lafrasse – «De 5 à 6. Transformation de hangars commerciaux en maison collective» (EPFL, Sophie Delhay, Luca Pattaroni)

Fünf stillgelegte Hangars werden in ein städtisches Wohngefüge verwandelt: Zwischen den bestehenden Strukturen werden neue Wohneinheiten eingefügt, während die Gemeinschaftsbereiche offen und flexibel bleiben. Das Projekt bewegt sich zwischen Haus- und Städtebau und zeigt, wie Umnutzung neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen kann.

Elena Lina-Sabrina Gisela Starke – «Linha do Sal. The line of salt culture in the 21st century» (USI, Quintus Miller)

In den Salinen von Alcochete lässt Starke etwas Neues entstehen. Der Entwurf ist zurückhaltend und doch in der Lage, der Komplexität des gewählten Ortes gerecht zu werden. Wer über die Holzkonstruktion die Landschaft durchquert, sieht Stationen aus Produktion, Verkauf und Gastgewerbe. Die Bauwerke, lokale Wirtschaft und Landschaft finden zu einem seltenen Gleichgewicht. Ein vergessener Ort erhält eine neue Bestimmung und wird in ein kollektives Erlebnis verwandelt.

Shriya Chaudhry und Martin Kohlberger – «Illegally Unclogging a Pipe» (ETHZ, Freek Persyn, Maarten Delbeke, Milica Topalović)

In Zürich, wo Hunderte von Gebäuden auf den Abriss warten, wird leerstehender Raum vorübergehend wieder nutzbar gemacht. Das Projekt stellt die Regeln nicht auf, sondern hinterfragt sie: So wird eine bauliche zur politischen Initiative – festgehalten durch Aufzeichnungen, Interviews und direkte Aktionen. Die Architektur besinnt sich damit auf ihre drängendste Aufgabe zurück: dem, was bereits da ist, einen neuen Zweck zu geben, und unser Recht auf die Stadt zu beanspruchen.

Léa Guillotin – «Re-fabriquer Sévelin: l’image de l’industrie au centre-ville» (EPFL, Jo Taillieu, Eric Lapierre)

Im Lausanner Stadtteil Sévelin transformiert Guillotin das Antlitz der lokalen Fertigung: Drei Industriegebäude aus den 1930er-Jahren bleiben erhalten und werden unter einer grossen Stahlkonstruktion vereint. Darin werden Arbeits- und Lagerräume für die Umnutzung von Gebäuden untergebracht. Es ist ein wesentliches Projekt, das der Arbeit und dem Material neue Form und Bedeutung verleiht. So sollen das Produzieren und Reparieren neue Wertschätzung erfahren.

 

Acht Projekte, acht Auslegungsversuche der Architektur als Baupraxis: Von der Umnutzung bis zur Regeneration, vom Hineinhorchen in die Orte bis zur Materialpflege. In jedem der Projekte bedeutet Bauen auch Wiederherstellen – unter behutsamer Zugabe einer eigenen «Schicht» zur vorhandenen. So entsteht Vielschichtigkeit. Die Arbeitsweise ist geprägt von Kontinuität oder Gegensätzen zu dem, was zuvor da war. Nichts soll getilgt, sondern vielmehr überschrieben oder korrigiert werden – wie in einem Textentwurf, wenn ein Strich gezogen und ein neues Wort ergänzt wird. All dies scheint ein kollektives Gefühl zu verkörpern, eine gemeinsame Haltung nicht nur bei den acht Gewinnerinnen und Gewinnern, sondern bei allen 31 Teilnehmenden. Das wirft Fragen auf – über die Zukunft des Berufs selbst und darüber, wie wir die Rolle der Architektur-«Schaffenden» in der Gesellschaft verstehen wollen, müssen und können.